Das Formenvokabular der Fotografie

In der Arbeit «What you see» beschreibt Luciano Rigolini eine «visuelle Grammatik» (Nachwort zum Buch, Fotostiftung Schweiz). Ich habe die Bilder im Buch und in der Ausstellung angeschaut und es ist, als lernte ich eine Sprache – das Formenvokabular der Fotografie. Die auffälligsten Elemente der fotografischen Formensprache möchte ich hier beschreiben, so wie ich sie wahrnehme. Es sind grafische Gestaltungsmuster, die in Rigolinis Arbeit äusserst konsequent angewendet werden.

  • Rundungen. Alles, was geschwungen, gebogen oder kreisrund ist. Kugeln oder runde Flecken, die Kopfform oder eine Strassenbiegung. Meist sind nur Halb- oder Viertelkreise zu sehen. Rundungen gibt es in technischen Materialien oder natürlichen Gegenständen.
  • Schrägen. Oft beschreiben die Linien ein <- oder >-Zeichen. Machmal gehen viele Formen mit unterschiedlich schrägen Linien durcheinander. Manchmal gehen sie diagonal durch das ganze Bild.
  • Raster/Gitter. Ein regelmässiges Netz überspannt das ganze Bild oder Teile. Unterschiedlich dicht, erlaubt es mehr oder weniger Durchblick auf das dahinter liegende Objekt. Oder die Rasterform bestimmt selbst das gesamte Bildes.
  • Rahmen. Parallel zum Bildrand verlaufende Linien, die wie zwei Winkel das Bild von beiden Seiten einrahmen; manchmal enger manchmal nur zu Teilen.
  • Turm/Stange. Senkrecht in den Himmel ragende Linie, oft mittig ausgerichtet oder leicht daneben.
  • Häuschenschema. Ich nenne sie mal so: die Form mit dem zum Himmel strebenden Dachgiebel und an der Vorderfläche Fenster und eine Türe.

Und jetzt noch gewissermassen zur Syntax, wie die Elemente angewendet und zusammengesetzt werden (vieles davon oben schon angesprochen):

  • Teile. Alle Elemente werden meist nicht ganz gezeigt, sondern teilweise. Die Menge hängt ab vom optischen Gleichgewicht im Bild. Viele verschiedene Teile fügen sich aneinander oder halten sich mit Entfernung die Waage.
  • Überlagerung. Das Nahe verdeckt das Ferne. Elemente haben Lücken und lassen etwas hervor scheinen. Ein Bild wird aus Vorder- und Hintergrund zusammengegossen.

Um mich mit diesen Formen weiter vertraut zu machen, habe ich einen Ausdruck meines Blatts «20 Kompositionen» gemacht. Es hilft, die Formen nachzuzeichnen, ein Rigolini-Bild so noch genauer zu analysieren oder auch ein eigenes Bild auf die Formensprache zu überprüfen. Irgendwie passend und ermutigend, die Fotografie poetisch als Sprache einzusetzen, fand ich im Magnum Blog in einem Zitat von David Alan Harvey:

Photography is now clearly a language. As with any language, knowing how to spell and write a gramatically correct "sentence" is , of course, necessary. But, more importantly, today's emerging photographers now must be "visual wordsmiths" with either a clear didactic or an esoteric imperitive. Be a poet, not a technical "writer".

So verändert sich mein Sehen und vielleicht auch mein Ausdruck in meinen Fotos. Die Botschaft wird dann immer deutlicher.